Die Coevolution von Passiflora und Heliconia Homo sapiens
Oder: Wie die Gattung Passiflora es schaffte, den Menschen zu unterwerfen…
In Deutschland verdanken Passiflora ihre Existenz allein dem Menschen. So werden Sie hier ausgepflanzt, überstehen harte deutsche Winter
und mehr noch, der Mensch hilft als Bestäuber fleißig mit, um noch mehr Nachkommen potenter im deutschen Klima zu machen. Selbst die
schöne Herbstzeitlose steht der Passionsblume zu Diensten und erzeugt mit Hilfe Ihres Giftes Colchicin tetraploide Passiflora, die noch
kräftiger in Wuchs und Blüte sind.
Wie jedoch schafft es eine einfache Gattung, so viele Individuen unserer Art seinem eigenen Willen zu unterwerfen? Das Geheimnis der
Unterwerfung wird offensichtlich, wenn man sich die schrittweise Entstehung der Sucht über die Saison genauer anschaut.
Ende Herbst.
Die schlimmste Zeit für den Passiflora-Enthusiasten. Bewaffnet mit Schere und Machete, man munkelt, dass einige sich hierfür sogar vorher
Mut antrinken müssen (s. weiter unten im Text), geht es den geliebten Passis an den Leib. Mindestens die Hälfte der Ranken schneidet man
ab und versucht so viele Stecklinge wie möglich zu stecken, in guter Hoffnung, im nächsten Jahr neue Tauschpartner für neue Passis zu
finden. Anschließend geht man auf die Jagd nach Überwinterungsplätzen. Dies ist die gefährlichste Zeit für die normalen Zimmerpflanzen,
denn Ihnen geht es mitunter als erstes an den Kragen und sie müssen ihren sonnigen Stellplätzen weichen. Schnell muss der Enthusiast
aber feststellen, dass die Fensterbänke im letzten Jahr massiv geschrumpft sind. So geht man auf weitere Stellplatz-Jagd. Beliebte Opfer
sind die Eltern, die in einem ohnehin zu großen Haus wohnen, Freunde, Nachbarn, Treppenhäuser von Nachbarn, Garagen von Nachbarn,
ach ja, das Büro hat ja auch so große Südfenster…
Winter.
Während der täglichen Visite stellt man fest, dass die Kellerüberwinterer unter dem chronischen Lichtmangel leiden. Kurzerhand bestellt
man im Internet eine Natriumdampflampe und installiert sie. Nur wenige Tage später fällt den Nachbarn auf, dass es aus dem Keller ständig
leuchtet. Von da an dauert es nur noch eine kurze Zeit, bis sie sich die Frage stellen, woher ihnen diese gelappten Blätter, die der
durchgeknallte Nachbar nebenan züchtet, bekannt vorkommen. Mitten im Winter steht dann die Polizei vor der Tür und bittet um eine
Untersuchung der privaten Pflanzenzucht.
Glücklich darüber, dass die Hüter des Gesetzes eine Cannabaceae von einer Passifloraceae unterscheiden können, widmet man sich wieder
seinen Lieblingen und stellt mit Schrecken fest, dass man es mit der 24/7-Beleuchtung doch zu gut gemeint hat. Die Schätze haben Sonnen-
äh Lampenbrand.
Spätestens ab Neujahr fängt die ewige Rechnerei an, wie viele Tage der Winter wohl noch dauern könnte und ob man die frostverträglichen
Sorten nicht schon mal langsam rausstellen sollte, damit sie ein bisschen Luft schnappen. Der Winter war in diesem Jahr ja erstaunlich mild.
Werden ja wohl kaum noch strengere Fröste kommen...
Im Februar, das Thermometer zeigt -15°C(!), werden dann doch noch ein paar Dankgebete gen Himmel geschickt, dass die
Winterdepression einen daran hinderte, sich aufzuraffen und alle nicht-tropischen Passis zum Sonnen rauszustellen. Jedoch hört das jucken
in den Fingern doch nicht auf. Man schaut sich regelmäßig im Internet um, welche Sorten einem fehlen und erweitert seine Wunschliste
täglich um gefühlte 20 Pflanzen. Lediglich die erst Mitte Frühjahr beginnende Lieferzeit vieler Onlineshops macht einem einen Strich durch
die Rechnung und hindert einen am Einkaufen. Nach langem hin- und her überlegen stellt der Enthusiast ohnehin schnell fest, dass es mehr
Sinn macht, Passionsblumen durch Aussaat zu ziehen. Die Vorteile liegen schließlich auf der Hand: Samen sind günstiger, man kann sie jetzt
schon bestellen und außerdem nehmen sie nicht so viel Platz weg. Und bis die mal groß geworden sind, hat man ohnehin ein eigenes
Konservatorium. Gefühlte 100 Samen diverser Arten werden gesät und schon wieder muss sich der Enthusiast in Geduld üben. Wenige
Wochen später kommen die ersten Keimlinge zum Vorschein und man ärgert sich, dass nur Samen von 1-2 Arten keimen. Egal. Es gibt ja
schließlich Tauschbörsen.
Frühjahr.
Die schönste Zeit für den Passi-Liebhaber ist gekommen. In dieser Zeit erwacht der Enthusiast vom Winterschlaf und kauft Töpfe, Erde,
Dünger, Schädlingsbekämpfungsmittel, Pflanzenstärkung, Rankstäbe, Untersetzer, Klammern und Drähte, Stecketiketten… Doch vor allen
Dingen kauft er Passionsblumen. Doppelt, dreifach, alles egal. Hauptsache schnell muss es blühen. Da der Versand über die Onlineshops
nicht schnell genug erfolgt, werden prophylaktisch die Gärtnereien und Baumärkte der Region angefahren, antelefoniert usw. Diese Zeit ist
die schlimmste für das Girokonto und den Partner des Enthusiasten. Doch er weiß: "Wahre Liebe kann nichts erschüttern". Übrigens, im
Allgemeinen ist der Passionsblumen-Fanatiker Schuld daran, wenn in diversen Garten-Shops der Vermerk "nicht verfügbar" bzw.
"ausverkauft" zu finden ist.
Mit den wichtigsten Utensilien ausgestattet geht es nun an das umtopfen der Passionsblumen. Der Enthusiast hat hiermit ja schon Erfahrung
und macht das mit System: In den neuen Satz Riesentöpfe werden die größten Passionsblumen im Bestand getopft, in deren ehemalige
Töpfe kommen die mittleren Passis, in die ehemaligen Töpfe der mittleren die kleinen Passis usw. Am Ende stellt der Enthusiast mit Freude
fest, dass er neuer und glücklicher Besitzer eines Satzes kleiner Töpfe ist. Doch nichts steht hier leer. Die machen sich doch ideal für neue
Stecklinge!!
Sommer.
Im Sommer schläft der Enthusiast nie länger als 3 Stunden. Der Tag beginnt schon früh: In seiner foetida-Ecke blüht es schon um 5 Uhr
morgens. Und was ist schon schöner als eine im Sonnenaufgang öffnende Passionsblume? Ein hervorragender Moment also, sein neues
Stativ im Rahmen neuer Zeitrafferaufnahmen auszuprobieren. Der Rest des Tages wird mit dem Inspizieren des Bestandes und vor allem auf
der Suche nach neu entstehenden Knospen verbracht. Es soll Tage geben, da muss der Enthusiast arbeiten. Kleine, kompakte Passis, die
kurz vor der Blüte stehen, begleiten einen natürlich. Nicht, dass man noch eine Blüte verpasst..! Nach Feierabend lauert der Enthusiast
weiter, diesmal hält er sich mit einem Nachtsichtgerät im Umkreis jener Passionsblumen auf, die nachts blühen. Und er ärgert sich. Wer hat
sich das eigentlich ausgedacht, dass Fledermäuse nur nachts auf Nahrungssuche gehen?
Tag ein, Tag aus, fotografiert, dokumentiert und bestäubt der Enthusiast seine Blüten. Doch soeben hat der Enthusiast entdeckt, dass die
frisch bestäubte Blüte von einer pollenbeladenen Hummel angeflogen wurde. Wie soll man denn da noch selektiv kreuzen? Ab heute gibt's
Insektenflugverbot im Garten!
Im Hochsommer, wenn seine Mitmenschen das Land in Richtung schöner Urlaubsorte verlassen, bleibt der Enthusiast grundsätzlich zu
Hause. Für Urlaub ist auch im Winter noch genug Zeit. Schließlich muss er sich um die regelmäßige Pflege inkl. Gießen, Düngen, Spritzen
und sogar um Schattierungen für Tacsonien kümmern.
Ende August lässt die Energie des Enthusiasten deutlich nach. Der Arzt bescheinigt ihm ein "burn-out-Syndrom" und rät ihm dringlichst zu
mehr Ruhe. Auch der Enthusiast sehnt sich nun langsam dem Ende der Saison und ist das erste Mal seit Jahren erleichtert, dass mit dem
Herbst der ganze Spuk vorerst ein Ende hat.
Herbst.
In diesem Jahr hat der Enthusiast gelernt, dass Passionsblumentee beruhigt. Er schnippelt sich etwas P. incarnata zurecht, gießt einen Tee
auf und trinkt ihn als Konzentrat.
In neuer Gelassenheit macht er sich an das alljährliche Beschnippeln.
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